David Campany: On Photographs

7.12.2020

Besprochen von Judith Böttger

Jede Forschungsdisziplin bildet im Lauf der Zeit ihren ganz eigenen Kanon aus. In der Literaturwissenschaft gehört Gérard Genettes »Die Erzählung« (1998) zur Pflichtlektüre, für die Fototheorie ist ein vergleichbarer Klassiker mit Sicherheit Susan Sontags »On Photography« (1977). In kritischer Absicht diskutierte Sontag in den sieben Essays dieses Buches die Fotografie als ein soziales und künstlerisches Phänomen. Dabei vergleicht sie zwar verschiedene fotografische Positionen, konkrete Bilder werden dabei jedoch eher gestreift.

Unübersehbar bezieht sich David Campany mit dem Titel seines in diesem Jahr erschienenen »On Photographs« auf Sontags Klassiker. Als Programmdirektor des International Center of Photography in New York ist Campany ein ausgewiesener Kenner der Fotografie, und erst jüngst war er Gastkurator der Biennale für aktuelle Fotografie in Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg. In seinem neuen Buch versucht er, durchaus im Unterschied zu Sontag, den Bogen vom einzelnen Bild hin zur Fotografie im Allgemeinen zu spannen.

Die Konzeption des Buches überzeugt durch Stringenz: 120 Fotografien, 120 Texte. Man kann jede Doppelseite als ein individuelles Diptychon lesen, oder aber man begreift »On Photographs« als einen einzigen, umfassenden Essay. Anders gesagt: Man kann sich für eine Lektüre in gut verdaulichen Häppchen entscheiden oder durch ein kontinuierliches Lesen am Stück Querverbindungen herstellen. Dabei ist die Auswahl der Fotografien und der dahinterstehenden Fotograf*innen überraschend: Neben Klassikern (zum Beispiel Eugène Atget, Lee Friedlander, Vivian Maier, Henri Cartier-Bresson) greift Campany auch auf eher unbekannte Künstler*innen zurück. Die Reihenfolge seiner Bildbesprechungen folgt dabei keiner erkennbaren zeitlichen oder räumlichen Ordnung – als Leser*in wird man auf diese Weise angeregt, selbst assoziative Brücken zu schlagen. So fällt auf, dass in vier aufeinander folgenden Fotografien die Bewegung das Leitmotiv ist. Zur Sprache kommen hier Bilder von Eadward Muybridge, Frank and Lillian Gilbreth, Étienne-Jules Marey und John Baldessari.

Die essayistischen Texte, die Campany den Fotografien zur Seite stellt, sind gespickt mit (werk-)biografischen Anekdoten, historischen Bezügen und legen den Fokus darauf, wie über Fotografien nachgedacht werden kann. Häufig gelingt es Campany sehr gut, fototheoretische Bezüge herzustellen, beispielsweise wenn er über die vermeintliche Diskrepanz zwischen Betrachtungs- und Bildzeit (S. 52) oder über Autorschaft (S. 40) nachdenkt. An einigen Stellen bedient Campany jedoch Klischees, die ins Kitschige abzugleiten drohen: »A photograph is a trace, and so is a lipstick kiss, but what is a trace, exactly? It is a presence that marks an absence, and as such its meaning can never be exact.« (S. 100)

Bild und Text weisen bei Campany über sich hinaus und stehen in einem größeren diskursiven Kontext. Es ist zwar eine große Qualität des Buches, vom Spezifischen zum Allgemeinen zu verweisen, andererseits geht dadurch aber gerade das verloren, was »On Photographs« eigentlich von »On Photography« unterscheiden sollte: die methodische Konzentration auf die einzelne Fotografie. Einige Texte sind so biografisch, dass man bis zum letzten Satz warten muss, bis überhaupt auf das spezifische Bild Bezug genommen wird. »Café, Paris« (1959) von Saul Leiter wird im dazugehörigen Text noch nicht einmal erwähnt, hat also kaum mehr als illustrativen Charakter. David Campany bietet eine niedrigschwellige Erzählung zur Fotogeschichte, sie hätte aber durchaus auch »On Photographers« heißen können.

David Campany: On Photographs, London (Thames & Hudson) 2020. 264 Seiten, Hardcover, 22,3 × 18,1 cm, ISBN: 978-0-500-54506-5.

Judith Böttger studiert seit 2019 an der Folkwang Universität der Künste im M.A. Photography Studies and Research.