Roland Meyer: Operative Porträts

25.8.2019

Besprochen von Steffen Siegel

In seinem kurzen, 1951 geschriebenen Essay »Kafka y sus Precursores« macht Jorge Luis Borges auf eine ebenso einfache wie gewichtige Tatsache aufmerksam: Von jedem neuen Heute aus lässt sich Geschichte neu perspektivieren. Denn alles Neue hängt nicht allein von dem ab, was ihm vorausgeht; es nimmt vielmehr auch selbst rückwirkend Einfluss auf seine eigene Vorgeschichte. Wenn Borges also nach den Vorläufern Kafkas sucht und dabei dessen literarische Eigentümlichkeit etwa in chinesischen Texten des 8. Jahrhunderts oder bei Sören Kierkegaard entdeckt, dann ist dies kein Rückschaufehler: Es wird vielmehr deutlich, wie sich mit der Lektüreerfahrung Kafkas die ihm voraus gehende Literaturgeschichte noch einmal neu betrachten lässt. Jeder neue Gegenwart konstituiert auch eine neue Vergangenheit.

In diesem Sinn ist es gewiss nicht zu viel behauptet, wenn man sagt: Das jüngst erschienene Buch »Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook« des Kunst- und Bildhistorikers Roland Meyer konnte so, wie es nun vorliegt, erst in unserer eigenen Zeit geschrieben werden. Biometrische Passbilder sind inzwischen fest in unseren Erfahrungshaushalt eingewandert. In offiziellen Dokumenten sind sie längst Pflicht, und die auf den Ämtern aushängenden Anweisungen, wie solche Bilder korrekt einzurichten seien, entbehren nicht einer unfreiwilligen Komik. Dass die Sache nicht wirklich zum Lachen ist, wissen wir allerdings auch: Das fotografische Bild vom eigenen Gesicht besitzt inzwischen den Rang einer Währung, die man mit sich führen muss, wenn man Auto fahren, eine Grenze passieren oder wählen gehen will. Für eben diese Bilder hat Meyer den Begriff »Operative Porträts« geprägt, und er untersucht in seinem Buch die Geschichte einer solchen Operationalisierung des individuellen Bildnisses für politische, ökonomische, kriminologische, epistemische etc. Zwecke.

Meyers gewichtige Studie wartet mit zwei Überraschungen auf: Zum einen greift er für die Rekonstruktion der »Precursores« erstaunlich weit zurück — bis hin zu der vom Schweizer Johann Caspar Lavater um 1770 angestoßenen Mode der physiognomischen Lektüre von Silhouetten. Und zum anderen machen die Kapitel dieses Buches ein ums nächste Mal deutlich, wie unpraktisch doch eigentlich das Porträt für die Zwecke der Verwaltung und Ordnung, Überwachung und Reglementierung von Individuen ist. Diese Bilder zeigen zu viel und zu wenig zugleich, mit Bezug zu den Dargestellten sie sind nicht hinreichend flexibel, vor allem aber seit die Fotografie als Leitmedium solcher Interessen auftrat, gab es ein quantitatives Problem: Die schiere Zahl an verfügbaren Bildern überstieg rasch jenes Maß, das sich sinnvoll auswerten ließ. So gesehen ist die Geschichte der »Operativen Porträts« vor allem eine Geschichte ihrer Operationalisierungen. In den Blick gelangt daher in Meyers Buch gar nicht so sehr die Ästhetik dieser Bildnisse als vielmehr das breite Spektrum von Kulturtechniken ihrer Bearbeitung.

Ganz im Sinn von Borges’ Interesse an den »Precursores« fragt auch Meyer danach, was den uns all zu gut vertrauten Ideen bildtechnologischer Identifizierbarkeit historisch vorausgeht. In zwölf Kapiteln wird dabei ein Panorama entfaltet, das sich wie eine andere Geschichte des Porträts im Zeitalter seiner technischen Operationalisierbarkeit liest. Wenigstens den Fachleuten wird manches dabei bestens vertraut sein — die Kapitel zu Disdéri, Lombroso, Galton oder Bertillon etwa sind konzise Abrisse des Forschungsstands (doch wer gute Einführungen zu diesen wichtigen Bildgeschichten sucht, ist hier gerade richtig). Andere Aspekte sind eher lose mit dem Thema verknüpft — von einem profunden Beitrag Alexander Rodschenkos, August Sanders oder Andy Warhols zur Geschichte der »Operativen Porträts« wird man eher nicht sprechen müssen. Dann aber gibt es wieder Kapitel, die eine wirklich neue Perspektive entfalten: Die den historischen Teil des Buches eröffnende Diskussion zu Lavater und schließlich auch das Resümee mit Analysen zu Gilles Deleuze/Félix Guattari und zu Roland Barthes sind brillante Lektüren.

Doch wird solche Rosinenpickerei der Anlage des Buches als Ganzes nicht gerecht. Denn Meyers Interesse liegt in eben jenem historischen Vektor, der sich in Borges’ Gedankenexperiment vorgezeichnet findet: Was lässt sich über eine wenigstens in manchen Teilen recht gut untersuchte Bildgeschichte des Porträtgebrauchs sagen, wenn wir diese Frage gerade heute stellen? Wenn wir uns also dafür in einer Zeit interessieren, in der die »Gesichterflut« längst eine prekäre politische Dimension erlangt hat, dass sie unser legitimes Bedürfnis auf Privatheit verletzt? In Meyers Studie zieht sich diese Geschichte zu einer auf fatale Weise konsequenten Zwangsläufigkeit zusammen, ohne dass der Autor diese Zusammenhänge forcieren müsste. Überhaupt aber fällt bei der Lektüre dieses Buches auf, wie unaufgeregt hier eine Geschichte präsentiert wird. Alarmismus ist Meyers Sache glücklicherweise nicht — dafür aber eine stilistische Präzision und sprachliche Eleganz, für die allein es sich lohnt, dieses Buch zu lesen.

Roland Meyer: Operative Porträts. Eine Bildgeschichte der Identifizierbarkeit von Lavater bis Facebook, Konstanz (Konstanz University Press) 2019. 468 Seiten, 80 s/w-Abbildungen. 978-3-8353-9113-0