»Und so etwas steht in Gelsenkirchen«

14.12.2020

Besprochen von Steffen Siegel

Neben so vielem anderen wird 2020 als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem man sich besser beeilt hat, soeben eröffnete Ausstellungen anzusehen. Andernfalls riskiert(e) man, vor verschlossenen Museumstüren zu stehen. Eine dieser vor der Zeit geschlossenen Ausstellungen ist »›Und so etwas steht in Gelsenkirchen…‹. Kulturbauten im Ruhrgebiet nach 1950«. Derzeit wäre sie eigentlich noch im Museum Folkwang zu sehen. Zehn Jahre nach Eröffnung von David Chipperfields Erweiterungsbau an der Essener Bismarckstraße wollte und will diese Ausstellung den kaum vergleichbaren Reichtum von Kulturbauten in den Blick nehmen, der sich auf dem geografisch so engen Raum des Ruhrgebiets als ein architektonisches und städtebauliches Ereignis erfahren lässt. Spreche ich aber vom Museum Folkwang an der Bismarckstraße, so beziehe ich mich unter der Hand bereits auf unsere eigene Gegenwart. Denn das Museum konnte man im Lauf von fast einhundert Jahren schon von allen Himmelsrichtungen aus betreten – Kulturbauten sind Architekturen im fortlaufenden Wandel.

Wer es genauer wissen will, sollte nach Dortmund ins Baukunstarchiv NRW fahren. Seit 2018 sitzt diese dem architekturgeschichtlichen Gedächtnis des Bundeslandes verpflichtete Institution im einstigen Museum am Ostwall (noch so ein fortlaufender Wandel). Aber auch dort sind derzeit natürlich die Türen verschlossen. Es bleibt derzeit nur ein Griff zu jenem Buch, das Hans-Ulrich Lechtreck, Wolfgang Sonne und Barbara Welzel herausgegeben haben – dessen Lektüre ist jedoch das Gegenteil einer Verlegenheitslösung. Es handelt sich um eine 400 Seiten starke Schatzkiste aus Bildern und Texten. In ihrem Zusammenspiel simulieren sie einen stöbernden Gang durchs Archiv: Es werden Archivboxen und Fotoalben geöffnet, Planschränke aufgezogen und Baupläne entrollt.

»Miniaturen« haben die Herausgeber*innen eine erste Gruppe von Texten genannt, in denen die Geschichte wichtiger Kulturbauten vorgestellt und die architektonischen Ideen diskutiert werden. Natürlich darf hier das »Musiktheater im Revier« nicht fehlen, immerhin bezieht sich der Buchtitel samt Yves-Klein-Blau auf diesen spektakulären, 1959 in Gelsenkirchen eröffneten Theaterneubau. Genauer betrachtet werden im Ganzen elf architektonische Meilensteine, darunter das Josef-Albers-Museum Quadrat in Bottrop, die Mercatorhalle in Duisburg (sie wurde vor wenigen Jahren abgerissen und durch ein CityPalais ersetzt, das genauso trist aussieht wie es heißt) oder das mit jahrzehntelanger Verspätung in den späten 1980er Jahren gebaute Aalto-Theater in Essen. Eine zweite Gruppe von Texten versammelt Essays – und diese lassen sich als eine exemplarisch am Ruhrgebiet entwickelte und brilliant zugespitzte Einführung in die Probleme von Architekturgeschichte, Bautypologie sowie Stadt- und Regionalentwicklung lesen.

Mit Blick auf verschiedene Neu- wie Umbauprojekte für Konzerthäuser im Ruhrgebiet wurde in jüngerer Zeit immer wieder kritisiert, dass die Städte des Ruhrgebiets in einen finanziell ruinösen Wettbewerb getreten sind, statt auf Kooperation und Aufgabenteilung zu setzen. Ganz falsch mag das nicht sein. Dennoch übersieht diese Kritik, welcher Reichtum in den zurückliegenden Jahrzehnten im Ruhrgebiet gerade deshalb entstanden ist – nicht allein architektonisch, sondern sehr viel mehr noch gesellschaftlich. Benannt ist damit die gar nicht so heimliche These des Buches: Wer Theater, Museen, Konzerthäuser oder Kinos baut, errichtet gesellschaftliche Mittelpunkte von dauerhaftem Wert. Zur Logik der »großen Stadt« zwischen Ruhr und Emscher gehört aber eben auch, dass es sich um eine polyzentrische Struktur handeln muss. Auf diese Weise existieren zum Beispiel im Ruhrgebiet nicht weniger als fünf Opernhäuser mit festem Ensemble (in Duisburg, Essen, Gelsenkirchen, Dortmund und Hagen) – das sind zwei mehr als in Berlin und drei mehr als in München.

Bereits vor zehn Jahren ist unter dem wunderbaren Titel »Auf den zweiten Blick. Architektur in der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen« ein (übrigens immer noch lieferbares) Buch erschienen (Mitherausgeber war auch seinerzeit schon Werner Sonne), das ich nicht allein liebe, sondern das ich spätestens seit meinem Wechsel an die Folkwang Universität und damit mitten ins Ruhrgebiet auch wie einen Reiseführer benutzt habe. Geografisch und thematisch fokussierter im Zuschnitt, aber vergleichbar opulent in Bild- wie Kommentarteil wird »Und so etwas steht in Gelsenkirchen…« etwas ganz Ähnliches leisten können. Und darf man sich, da ja Weihnachten vor der Tür steht, sogleich eine Fortsetzung wünschen? Das Museum Küppersmühle in Duisburg, direkt um die Ecke das Landesarchiv NRW, das Gasometer in Oberhausen, das Ruhr Museum auf der Zeche Zollverein in Essen, das Musikzentrum Bochum, das Theater Dortmund, der Erweiterungsbau im Osthaus Museum in Hagen, das LWL Museum für Archäologie in Herne – an bemerkenswerter Architektur wäre wirklich kein Mangel, auf den ersten wie auf den zweiten Blick.

Hans Jürgen Lechtreck, Wolfgang Sonne, Barbara Welzel (Hg.): »Und so etwas steht in Gelsenkirchen...« Kultur@Stadt_Bauten_Ruhr, Dortmund (Kettler) 2020. 400 Seiten, zahlreiche Farbabbildungen, Klappenbroschur, 20 × 24 cm,  ISBN: 978-3-86206-835-7.