Christopher Muller: Fotografie, Collage, Malerei

Hengesbach Gallery Wuppertal
1. September bis 16. Oktober 2020

Wenn unser Sehen sich auf die Welt einstellt, dann geschieht dies nicht immer auf die gleiche Weise. Implizite geistige Voreinstellungen richten unser Sehen unterschiedlich aus: Das Sehen kann ganzheitlich orientiert sein und hierbei eine Konstellation von Dingen als eine zusammengehörige Situation erfassen wollen. Diesem Bedürfnis entspricht der Kamerablick, der von einem definierten Standort aus mit klar gesetzten Grenzen eine visuelle Vielfalt in einem kurzen Moment zu der Einheit eines Bildes zusammenfasst. Das Sehen kann aber auch umherschweifen, etwas aufgreifen und dieses zu etwas ganz anderem in eine neue Verbindung fügen. Diesem Sehen entspricht das Medium der Collage. Das Sehen kann aber auch eine komplexe Szenerie langsam durchdringen, von einem vagen Gesamtüberblick arbeitet es sich dann Stück für Stück von Einzelheit zu Einzelheit fort und legt sich die Zusammenhänge immer detaillierter zurecht. Diesem Sehen entspricht das Malen, welches in einem langsamen Entwicklungsprozess eine Szenerie in ihre Verästelungen und Kontraste ausgestaltet.

Christopher Muller arbeitet seit vielen Jahren daran, diese grundlegend verschiedenen Weisen des Sehens in den unterschiedlichen medialen Feldern auszugestalten. In seinen Ausstellungen hat er die verschiedenen Medien bisher voneinander separiert. Jetzt führt er sie zusammen und stellt sie gleichwertig einander gegenüber. Sein generelles Interesse an der Welt ist auf unsere alltägliche Nahwelt gerichtet, auf das, was wir mit unseren Armen in unmittelbarer Nachbarschaft erreichen können. Das Sehen bleibt nicht unbeeinflusst von dieser Ausrichtung, denn alles, was ich mir in dieser Nahwelt visuell erschließe, kann ich zugleich auch greifen. Das Nahsehen ist im Gegensatz zum Distanzsehen immer auch ein körperliches Sehen.

Den drei unterschiedenen Arten des Sehens entsprechen auch unterschiedliche körperliche Zugangsweisen. Das präzise Erfassen einer Gesamtsituation hat mit dem Bewusstsein zu tun, dass ich jedem Ding an einem vorgegebenen Ort seinen Platz anweisen kann. Etwas anderes ist das Bewusstsein, für ein visuelles Ereignis ein kontrastives Komplement zu finden. Ich muss motorische Suchbewegungen vollführen und im Hinzufügen von einem zum anderen beides füreinander passend machen. Davon unterscheidet sich wiederum ein Bewegungsverhalten, welches ein Stück auf einem anderen Stück aufeinander aufbauen lässt. Dafür muss ich die Dinge körperlich aufeinander ausrichten.

Die Grundvoraussetzung für Sehen ist Licht. Licht erhellt die Atmosphäre, Licht fällt auf Oberflächen, die es teilweise absorbieren und teilweise zurückstrahlen und damit die farbige Vielfalt erzeugen. Während in Mullers früheren Arbeiten eine gleichmäßige Ausleuchtung die Aufmerksamkeit auf die ausgewählten Ordnungen der Dinge richtete, ist das Licht in seinen neueren Arbeiten zu einem eigenen Akteur geworden. Es hebt einzelne Dinge heraus, andere setzt es in eine Unscheinbarkeit. Durch Setzung von Reflexen macht es mitunter erst das Ding in seiner Formmodellierung erkennbar. Auch die räumliche Nähe oder der Abstand der Dinge voneinander kann durch Licht dramatisiert werden. Glanz und Mattigkeit verleiht den Dingen eine zusätzliche emotionale Qualität. Parallel dazu hat Muller in dinglichen Anhäufungen des Bildraumes das Gespräch der Dinge miteinander gesteigert oder durch Entleerungen gemindert und dadurch zusätzliche Spannungsbögen und Erwartungen entstehen lassen.

Muller greift auf seine nahe Dingwelt auch nicht mehr in frontaler Perspektive zu, sondern setzt Linienverläufe schräg oder stürzend ins Bild und schneidet an den Bildrändern Dinge so an, dass mitunter nur ein Bruchteil des Volumens eines Dinges im Bild zu sehen ist, während das Auge den größten, im Off befindlichen Teil imaginiert und sich auf die damit einhergehenden Gewichtungen einrichten muss. Außerdem schärft er das Bewusstsein für die unterschiedlichen Raumschichten mit ihrer unterschiedlichen Bezogenheit auf Handlungen: der Vordergrund ist die Präsentationsebene, der Mittelgrund das Handlungsfeld und der Hintergrund eher die Ruhezone.

Die inhaltliche Thematik von Mullers fotografischen Stillleben ergibt sich aus der Nahwelt des Wohnens. Bei ihrer Betrachtung fordern sie von uns ein sehr genaues Sehen. So kann eine fast unsichtbare kleine Wasserlache am Rande einer Arbeitsplatte in dem Bild »Plastic Bottles« den entscheidenden Hinweis auf die Motivverbindungen ergeben. Denn die Wasserspur aktiviert in uns Handlungsvorstellungen vom Benutzen der Spülbürste, von einem assistierenden metallischen Topfreiniger neben ihr. Sie verknüpft aber auch Materialitätsvorstellungen miteinander, das Wasser in der Plastikflasche mit Vorstellungen vom Greifen der Wasserflasche, von den damit verbundenen Geräuschen, von den unterschiedlichen Öffnungsmöglichkeiten eines Schraub- und eines Kippverschlusses, von den trotz gleicher Durchsichtigkeit unterschiedlichen Geschmacks- und Konsistenzvorstellungen von Wasser und Spülmittel. Dieses Aufrufen von Vorstellungen erzählt etwas über unser Leben in der Welt, über die Wege von Assoziationsketten in unserem Kopf, von unserem körperlichen Fühlen und Agieren. Unser Vorstellen basiert auf unseren körperlichen Eigenschaften, auf der Fähigkeit, Empfindungen durch unseren Körper wandern zu lassen, dazu passend unsere Muskeln koordiniert in Gang zu setzen und dies als Erinnerungspotential gegenwärtig zu halten. Das fein geäderte Marmorbrett am Rande von Mullers Stillleben »Plastic Bottles« übersetzt diese Durchzogenheit unseres Körpers von Empfindungen, Vorstellungen und Muskelbewegungen in ein anschauliches Bild.

Mullers Stillleben streben nicht wie das holländische Barockstillleben an, die äußerliche Vielfalt und den Reichtum unseres Lebens vor Augen zu führen. Diese nimmt er als selbstverständlich. Er ist vielmehr an der inneren Vielfalt unseres Vorstellens und unserer Umgangsweisen mit den Dingen interessiert. Die Dinge sind bei ihm auch keine symbolischen Verweisträger. Stattdessen fungieren sie als Verdichtungen unseres alltäglichen Empfindungsreichtums und der auf diesem aufbauenden Vorstellungswelt. Sie sind nicht vereinzelte optische Melodien von räumlichen Arrangements, sondern Konzerte des Zusammenklanges, der Bewegungs- und Erinnerungsorientiertheit all unserer Sinne. Sie sind Vermessungen der Sinnqualitäten unseres Lebens, welche sich auf dem Empfindungsreichtum unseres sich anreichernden Erfahrens aufbauen.

Mullers gemalte Bilder sprechen zwar auch von unseren Sinnen und ihrem Zusammenklang. Sie bringen aber zum Ausdruck, dass der Empfindungsreichtum es oft auch mit zweideutigen Wahrnehmungen zu tun hat und dass es einen unterschiedlichen Körperlichkeitszugriff gibt. Seine Bilder heben die Scheinhaftigkeit unserer visuellen Welt hervor, verdeutlichen die Ambivalenz von Schatten, von Reflexen, von Spiegelungen oder Dunkelheiten. Sie akzentuieren das bloß Ahnungshafte und spielen mit der Ungleichheit von Verdoppelungen. Zugleich thematisieren sie die Zweideutigkeiten des Verlassens des Drinnen als dem Privaten und des Draußen als des ferneren Öffentlichen. Sie rücken die Membranen dieses Dazwischen, einfache oder doppelte Glas- und Spiegelscheiben in den Fokus. Bei manchen Bildern weiß man zuerst nicht, ob man ein Bild oder ein Spiegelbild sieht, wo sich die Schnittfläche zwischen Spiegelbild und realem Raum befindet, ob die Lichtpunkte Reflexe der eigenen Welt oder fernere Helligkeiten des Draußen sind. Und da die dinglichen Erscheinungen wie in einem Wachstum begriffen scheinen, weiß man mitunter nicht, was wie zusammenwächst, was nur eine Überblendung, was ein bloßes Nebeneinander und was ein Zusammengehöriges ist. Auch der Unterschied zwischen Realem und seinem Schatten geht verloren. Der Schatten erhält in seinen Bildern eine Weichheit, die ihn zu etwas Lebendigem in einer lichtabgewandten Welt macht. Mullers Malereien verlangen ein langsames und ein auf sich selbst schauendes Sehen. Sie sind zwar in genauer Beobachtung auf die ihn umgebende Wirklichkeit ausgerichtet, zugleich aber ist die Beobachtung gebrochen durch eine beständige Reflexion auf das eigene Empfinden, welches das Wachsen der Formwelt zurückbindet an seinen taktilen Zugang zu den Dingen. Die Dinge müssen sich bei ihm als anfassbare Körper empfinden lassen. Genau darin besteht sein weiter Abstand zu einer fotorealistischen Malerei, die solche Reflexionsschleifen ausschließt.

Die Collagen schließlich können noch stärker befremden. Ihnen ist eine ureigene Fremdheit zueigen und auf diese setzt Muller. Mullers Collagen bestehen aus original großen Papierstücken, die ursprünglich wie Erscheinungen aus dem Nichts zu ihm nach Hause gekommen sind, die er nicht eigens in seinen häuslichen Nahraum zugelassen hat. Es ist Papiermaterial, welches aufgrund seiner preiswerten Herstellung als Werbung oder Karten in all unsere Haushalte gelangt. Papier wird bedruckt, Bilder, Grafiken, Typografien werden dafür in eine aufgezwungene Maßstäblichkeit eingepasst. Anders als in Mullers fotografischen Stillleben oder Malereien sind hier die abgebildeten Dinge nicht in ihrer realen Größe dargestellt. Die Werbegrafik presst Bilder in ein Format, löst sie aus ihrem Kontext, setzt sie in einen septischen Raum und führt sie der Herrschaft von Buchstaben und Zeichen zu. Muller interessiert sich für diese harschen Bildmanipulationen. Er kappt den funktionalen Zusammenhang der Papierstücke und stellt sie konfrontativ einem anderen Papierstück gegenüber. In der ästhetischen Freilegung als neues Bild eröffnet er ein Gespräch über Sinnfindungen und Sinnhintergründe visueller Impulse. So kann der brutale Tanz einer schwarzen Gummistiefelkaskade in »Boots«, der mit roten Sternchen besonders markiert wird, sich im Gegenüber einer weichen grafischen Wellenbewegung zarter Weiß- und Hellblau-Töne zu einer Befragung der Herkunft und dem Gepräge kolonialer Wirklichkeitsordnungen gestalten.

Text: Rolf Hengesbach, Wuppertal